Für die Mehrzahl der Führungskräfte ist klar, dass ihr Unternehmen eine Strategie braucht. Immer wieder stößt man aber auch auf Manager, die sich da nicht so sicher sind und Zweifel anmelden. Nicht selten kommen diese Zweifel von Leuten aus Unternehmen, die sich höchst erfolgreich entwickelt haben. Oft aus der Reihe eigentümergeführter Hidden Champions, die nicht selten nach dem Motto agieren: „Die einzige Strategie, die wir haben, ist es, die Bodenhaftung nicht zu verlieren und unsere Arbeit zu machen.“ Strategie und, erst recht, eine Vision gilt den Vertretern dieser Haltung als Hokuspokus.
Aber wie ist es wirklich? Sind Strategien tatsächlich „leeres Gewäsch“, erdacht von akademischen Wichtigtuern? Genügt es, seine Hausaufgaben zu machen und die Bodenhaftung nicht zu verlieren?
Tatsächlich gibt es verschiedene Gruppen von Unternehmen, die sich über ihr Verhältnis zu Strategie und Strategiearbeit unterscheiden lassen.
Für die eine Gruppe von Unternehmen lässt sich ein sehr enger Zusammenhang zwischen der jeweils verfolgten Strategie und dem Auf- und Ab der Unternehmensentwicklung darstellen. IBM, GE, Microsoft und Apple fallen einem dazu ein, aber auch Siemens, Volkswagen, Samsung oder die Swiss Re, um hier nur ein paar ganz große Player zu nennen.
Der Aufstieg von Microsoft in den 90er Jahren scheint eng mit der Vision „Ein PC auf jeden Schreibtisch“ verbunden. Genauso wie die eher flaue Entwicklung zwischen 2010 und 2018 dem Umstand zugeschrieben wird, dass Microsoft wichtige Entwicklungen verschlafen und keine adäquate strategische Antwort auf die Smartphone-Revolution gefunden hatte. Die ursprüngliche Vision war erreicht, wesentliche Entwicklungen wurden verpasst, ein neues Zukunftsbild schien nicht erkennbar vorhanden. Mit Satya Nadella änderte sich das wieder. Wenige Monate nach seinem Amtsantritt war klar: „mobile first, cloud first“. Man hatte und hat den Eindruck, Microsoft weiß auch aktuell ganz genau, wohin die Reise gehen soll. Die verschiedenen Geschäftsfelder sind hervorragend positioniert und versprechen weiterhin erhebliches Wachstum. Die veränderte Strategie und deren konsequente Umsetzung haben Microsoft zu einem besseren, einem wertvolleren Unternehmen gemacht, als es vor Nadella war. Für den Moment, ein Happy End!
Es gibt natürlich auch Unternehmen, für die es nicht so gut lief: Man denke etwa an IBM, Nokia, Hewlett Packard, RIM und Kodak. Allesamt ehemalige Weltkonzerne, die heute längst nicht mehr die Bedeutung haben, die sie einst hatten. Allesamt Unternehmen, die auch in den Jahren ihres „Niederganges“ eine Strategie verfolgten. Einige dieser Unternehmen sind „disrupiert“, also von einem radikal besseren Lösungskonzept vom Platz gefegt worden. Das ist auch ein wenig Pech. Doch das gilt längst nicht für alle der Genannten. Bei ihnen ist der Abstieg mehr das Ergebnis eigener strategischer Fehlentscheidungen – aus welchen Gründen auch immer. Sie sind falsch abgebogen, sie haben eine „strategische Wende in den Untergang“ bzw. eine massive Schwächung ihres Unternehmens herbeigeführt. Auch wenn das Ergebnis kein erwünschtes ist, die Existenz und Entwicklung dieser Unternehmen zeigt, dass Strategie eine Bedeutung hat. Es gibt also Unternehmen, deren Wohl und Weh sich abhängig von dem jeweils verfolgten strategischen Konzept entwickelt.
Noch größer ist die Gruppe der Unternehmen, die eine Strategie haben, bei denen aber praktisch keinerlei Auswirkung der Strategie erkennbar ist – weder von außen noch von innen. Die Strategie ist dann oft ein Papiertiger. Erarbeitet, weil der Aufsichtsrat es haben wollte oder weil es zum „guten Ton“ gehört. Mitunter begleitet von Initiativen, die nicht mehr sind als operative Aufgabenstellungen, die man ohnehin hätte angehen müssen oder von Scheinprojekten, die von der Ferne wirkmächtig aussehen und je näher man kommt, immer kleiner werden wie der Scheinriese Tukur in Michael Endes Kindergeschichte „Lukas der Lokomotivführer“. Derlei Strategien sind meist ambitionslos, sie sind nicht dazu da, etwas zu verändern oder ein visionäres Zielbild zu erreichen. Scheinstrategien sind eine Konzession an die Verwaltung des Status quo und sie begleiten eine Unternehmensentwicklung, die sich mehr oder weniger zwangsläufig aus dem Status quo ergibt. Das kann gut gehen – muss aber nicht.
Zuletzt gibt es noch die Gruppe von Unternehmen, welche bewusst auf eine Strategie verzichten und sich dennoch großartig entwickeln. Derlei Unternehmen haben in der Regel ein gutes Produkt und Kunden, die dieses haben wollen, und sie schaffen es, die Nachfrage zu managen. Sie sind, so gesehen, echte Glückspilze.
Die Tatsache, dass es auf der ganzen Bandbreite erfolgreiche Unternehmen gibt, erschwert die Antwort auf die Frage: Braucht es eine Strategie? Wenn es offensichtlich auch ohne geht, warum sich dann die Mühe machen eine Strategie auf den Weg zu bringen? Auf einen Weg, der mitunter Kraft und Geld kostet, Widerstand auslöst und dann noch die Gefahr birgt, Fehler zu machen, d.h. eine Strategie zu entwickeln, die das Unternehmen schwächt. Ist es da nicht besser, mit dem „Spatz in der Hand“ zufrieden zu sein?
Um zu einer Antwort zu kommen, müssen wir genauer hinschauen und uns damit beschäftigen, unter welchen Rahmenbedingungen „strategielose“ Unternehmen erfolgreich sind.
Eine gute Voraussetzung dafür, sich auch ohne Strategie gut zu entwickeln, sind zunehmende Nachfrage bzw. wachsende Märkte, die das vorhandene Angebot laufend aufnehmen. Der Prozess der Globalisierung und der weltweite Wohlstandszuwachs hat für viele Industrien jahrzehntelang geradezu ideale Bedingungen geschaffen. Die Qualitäts- und Leistungsunterschiede der Unternehmen in verschiedenen Ländern führen dabei praktisch „automatisch“ zu Absatzmärkten. Das in den entwickelten Ländern verfügbare Produktsortiment ist für Kunden in sich öffnenden, weniger entwickelten Ländern oft attraktiv. Sobald es auch „leistbar“ wird, genügt es, mit den Produkten vor Ort zu sein.
Ein weiteres Beispiel für Rahmenbedingungen, die nicht allzu viel Strategie erfordern, hat die Digitalisierung mit sich gebracht. Aus ihr ist eine ungeheure Nachfrage nach allen möglichen Formen der IT-Dienstleistungen entstanden. In der Folge ist nicht nur die Zahl an IT-Dienstleistern rasch gewachsen, es ist praktisch allen gelungen sich am Markt zu halten oder rasch zu wachsen.
Nicht nur wachsende, sondern auch wenig kompetitive, sich stabil entwickelnde Märkte führen zu Bedingungen, in denen ein „Überleben ohne Strategie“ gut möglich ist. Die Versicherungsbranche war bis in 90er Jahre des letzten Jahrhunderts reguliert. Versicherungsbedingungen und Prämien wurden in den Ausschüssen der Verbände entwickelt und vereinbart. Echte Differenzierung war praktisch nicht möglich und ist faktisch – auf Produktebene – immer noch schwierig. Eine hohe Marktdynamik ist dabei bis heute nicht feststellbar – Kunden haben kein allzu großes Interesse an den Inhalten der Versicherungsprodukte und erachten diese als notwendiges Übel. Veränderungen vollziehen sich in der Versicherungswirtschaft immer noch in „Zeitlupe“, und die sich ebenso langsam verändernden Vertragsbestände sorgen für eine fast beispiellose Langlebigkeit der Versicherer – trotz weitreichender Strategielosigkeit.
Wenig stabil wachsende Märkte und dynamische Märkte sind günstige Rahmenbedingungen für ein Überleben ohne Strategie. Aber auch der Umkehrschluss ist richtig; in Umbruchzeiten wird es ohne Strategie schwierig. Wenn sich disruptive Veränderungen vollziehen, Märkte konsolidieren oder ganz verschwinden oder sich Produktionsbedingungen verändern, dann braucht es Orientierung. Je mehr man sich in unbekanntem Terrain bewegt, desto wertvoller ist eine Landkarte. Strategie kann in vergleichsweisen ruhigen Zeiten aus einem mittelmäßigen Unternehmen ein Hervorragendes machen, in Zeiten des Umbruchs ist eine wirksame Strategie ein Muss.